Arbeitsgruppe «Integration durch Bildung» 2.-3. & 30.-31. Oktober

von Marina Bressan, Projektmitarbeiterin und Sabine Zurschmitten, Co-Projektleiterin Perspektiven-Studium

 

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«Für Geflüchtete führen alle Wege als Arbeitskraft ins Restaurant – nicht nach Rom.»

Mit diesen Worten stellte sich Halmat, einer der Teilnehmenden der Arbeitsgruppe «Integration durch Bildung» vor. So wie er haben ein Grossteil der Teilnehmenden in ihren Herkunftsländern studiert. Physik, Medizin, Englisch, Jura, Design. Einige von ihnen verfügen über jahrelange Arbeitserfahrung. Mit der Flucht in die Schweiz haben sie nicht nur ihr Herkunftsland, ihre Familie und Freunde verlassen müssen, sondern mussten auch ihr Studium oder ihre Arbeit aufgegeben. In der Schweiz angekommen, hofften sie, sich und ihr Potenzial hier einbringen zu können. Doch Hochschulen und der qualifizierte Arbeitsmarkt bleiben für viele Geflüchtete – trotz ihrer Qualifikationen – nur schwer zugänglich.

Y.* studierte Medizin in der Türkei und hat bereits 10 Jahre Berufserfahrung als Arzt. Während des Lockdowns im Frühling meldete er sich bei mehreren Schweizer Spitälern als freiwilliger Helfer – und erhielt nur Absagen.

Halmats Aussage und Y.s Erfahrung widerspiegeln, was viele geflüchtete Menschen in der Schweiz erleben – eine extreme Dequalifizierung. Aber ihre Stimmen werden kaum gehört, denn in der Schweiz wird viel über «die Integration von Migrant*innen» diskutiert, aber nur selten kommen sie selbst zu Wort. Vielen Schweizer*innen ist deshalb nicht bewusst, welche Hürden geflüchtete Menschen müssen, wenn sie sich in der Schweiz einbringen wollen. Dabei bringt diese Zielgruppe hochqualifizierter Migrant*innen oft eine Reihe von Fähigkeiten mit, die in einem zunehmend globalisierten Arbeitsmarkt und in einer von kultureller Vielfalt geprägten Migrationsgesellschaft Schweiz mehr denn je gefragt sind: Mehrsprachigkeit, internationale Lebenserfahrung, interkulturelle Kompetenzen, Flexibilität und Resilienz. Dass das Potential dieser Menschen eine grosse Chance für die Gesellschaft, die Wissenschaft und die Wirtschaft darstellt, ist eine Perspektive, die im öffentlichen Diskurs und in der Behördenlogik leider wenig bis gar keine Resonanz findet.

Um diese Dynamik zu verändern, kamen im Rahmen der Arbeitsgruppe «Integration durch Bildung» am 2.,3., 30. und 31. Oktober 2020 fast 50 Menschen – studentische Geflüchtete und regulär Studierende – zusammen. Im Zentrum der gemeinsamen Arbeitstage standen die Fragen, welchen Hindernissen Menschen mit Fluchthintergrund begegnen, wenn sie in der Schweiz (weiter-) studieren wollen und welche Lösungsvorschläge sie selbst haben.

 

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Mit der Unterstützung von NCBI eruierten die Teilnehmenden die Problemfelder bezüglich des Hochschulzugangs: ungenügende Informationslage, geringe Unterstützung von Seiten der Behörden, fehlende Sprachkurse, komplizierte Anerkennung von Vorbildung bzw. von Diplomen, fehlende Finanzierung, prekäre Wohnsituationen in vielen Kollektivunterkünften.

In einem zweiten Schritt wurden in thematischen Gruppen Vorschläge für politische Forderungen erarbeitet. Keine einfache Sache in einem Land wie die Schweiz, das  föderalistisch organisiert ist und bei jeder Forderung überlegt werden muss, an wen sie sich richtet: Bund, Kantone, Gemeinden, Migrationsbehörden, Hochschulen? Rahel Imobersteg (swissuniversities, ehem. Generalsekretärin VSS-UNES) teilte bereitwillig ihr politisches Wissen, um die Forderungen der Teilnehmenden möglichst effektiv zu gestalten. Angeregt durch den Wissensinput, diskutierten die Teilnehmenden engagiert, um sich anschliessend gegenseitig ihre Forderungsvorschläge vorzustellen: “Wir wollen einen einfachen Zugang zu Informationen bezüglich Studium für alle geflüchteten Personen. Es braucht mehr Flexibilität beim Zulassungsverfahren zum Studium, wenn beispielsweise Diplome fehlen. Finanzierte Sprachkurse sind notwendig, um das für die Zulassung benötigte Sprachniveau (meist B2-C2) zu erreichen.”

Die Forderungen werden nun gemeinsam mit den Teilnehmenden finalisiert. Sie bilden in den nächsten Jahren die Grundlage der politischen Arbeit von Perspektiven-Studium. Im Januar wird eine Schulung zur politischen Arbeit folgen, um gemeinsam lokale Aktionen an unterschiedlichen Hochschulen zu planen und politische Vorstösse auf nationaler und kantonaler Ebene vorzubereiten.

Die Durchführung der AG “Integration durch Bildung” war für das Team von Perspektivem-Studium ein Meilenstein im laufenden Projektjahr.  Über das eigentliche Ziel hinaus, die partizipativ erarbeiteten Forderungen, inspiriert und nährt die AG “Integration durch Bildung” unsere weitere Arbeit in vielerlei Hinsicht: Durch die zahlreichen Begegnungen, Gespräche und Geschichten und nicht zuletzt durch den dabei entstandenen Zustand der Communitas**, der uns Hoffnung und damit Energie gibt, um gemeinsam Veränderungen anzupacken. Denn – so brachte es Manahil, eine der Teilnehmenden zum Ausdruck: «Hoffnung bringt Energie». Energie, um uns weiter für einen chancengerechten Hochschulzugang einzusetzen.

 

 

>> Bleiben Sie dran! Bald folgen auf unserem Blog testimonials von betroffenen Menschen und solchen, die sich aktiv für einen chancengerechten Hochschulzugang einsetzen.

 

*Name der Redaktion bekannt

**Der Ethnologe Victor Turner benutzte den Begriff der “Communitas,” um ein temporäres Zusammengehörigkeitsgefühl zu beschreiben, das während der liminalen Phase von Ritualen auftritt. Während dieser Zeit kommt es zu einer Gleichheit der Beteiligten, zu einem Zustand ohne Hierarchien. Die Menschen, die sich in diesem Moment ausserhalb der Gesellschaft befinden, also ausserhalb der gesellschaftlichen Struktur, befinden sich hier in einer Anti-Struktur, die wiederum das Potential für Veränderung in sich birgt

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