Im Gespräch mit der Kunstschaffenden Natalia Sierra. 

Wir sind im Hiltl in Zürich verabredet. Natalia erwartet mich mit einem Lachen im Gesicht. Auf meine Fragen antwortet sie vom ersten Moment an offen. Ich spreche sie darauf an und sichere ihr zu, dass sie frei sei, was und wie viel sie erzähle und was davon veröffentlicht werden soll. Danach versinken wir in ein Gespräch und tauchen erst einige Stunden später wieder auf.  

«Ich bin Natalia und in Bogota, Kolumbien geboren und aufgewachsen. In Kolumbien habe ich Film und Fernsehmoderation studiert. Neben dem Studium habe ich meine Mutter, die sich als Anwältin für displaced families* engagierte, unterstützt. Meine Mutter ging als Anwältin der Familien gerichtlich gegen verantwortliche Personen der Polizei, der Armee und des Staates vor. Dieses Engagement wurde von den Behörden in Kolumbien nicht geschätzt und wurde 2016 zum Grund unserer Flucht. Damals stand ich kurz vor dem Abschluss meines Bachelors. Mit meiner Universität in Bogota vereinbarte ich, meine Abschlussarbeit – einen Dokumentarfilm – in der Schweiz fertigzustellen.» 

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«In der Schweiz angekommen, beantragten wir Asyl aufgrund politischer Verfolgung. Ich musste ein langes Dokument unterschreiben und meinen Pass abgeben. Meine Hardware mit dem Filmmaterial nahm man mir ebenfalls ab. Ich realisierte, dass von nun an andere über meinen Aufenthalt und – stückweit – über mein Leben entscheiden würden. Wir kamen in ein Durchgangszentrum und von dort in eine Kollektivunterkunft. Obwohl die Situation sehr herausfordernd war, versuchte ich meine eigenen Projekte und Ideen umzusetzen. Das bin ich – ich muss aktiv werden, mir einen Ort aneignen, mit Menschen in Kontakt kommen.  Auf der Suche nach einem WG-Zimmer wurde ich auf das Schnupperprojekt an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) aufmerksam.»  

Natalias Erlebnisse verdeutlichen, dass Menschen, die in die Schweiz flüchten, bei ihrer Ankunft kaum über ihre Möglichkeiten aufgeklärt werden. Mittels konsequenter Potenzialabklärungen könnte man den Bildungshintergrund der ankommenden Menschen ermitteln und sie über (Aus-)Bildungsangebote informieren. Denn so wie an der ZHdK existieren an verschiedenen Schweizer Hochschulen kostenlose Schnupperangebote. Die ZHdK betreibt eine Anlaufstelle für Geflüchtete und ermöglicht Geflüchteten, die in ihren Herkunftsländern Kunst oder Design studiert haben oder mit dem Studium beginnen wollten, ein Schnuppersemester. Die Teilnehmenden können als Gasthörer*innen Lehrveranstaltungen der ZHdK besuchen und sich mit dem Studium vertraut machen. Auch Natalia wurde in das Schnupperprogramm der ZHdK aufgenommen und konnte als Hörerin im BA Art & Education teilnehmen. Über ihre Aufnahme sagt Natalia:  

«Das war ein grosser Wendepunkt für mich. Endlich fühlte ich mich wieder als Studentin und Künstlerin wahrgenommen.» 
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Anschliessend an das Schnuppersemester hat sich Natalia mit der Hilfe der Anlaufstelle für Geflüchtete an der ZHdK regulär für ein Masterstudium beworben und wurde aufgenommen.

«Ich wollte unbedingt eine „normale Studentin“ sein – so wie alle anderen.» 

Die Anlaufstelle für Geflüchtete hat Natalia bei der Zusammenstellung der administrativen Arbeiten, die eine Immatrikulation erfordern, unterstützt und sie bei der Finanzierung des Studiums begleitet. Trotz der grossen Hilfe von Seiten der ZHdK war die Finanzierung des Masterstudiums von Anfang eine grosse Herausforderung. Der Zugang zu Stipendien ist ein Spiessrutenlauf und abhängig vom Aufenthaltsstaus und der Vorbildung. Natalia ist, da sie bereits einen Bachelor abgeschlossen hat und dieser als Erstausbildung gilt, nicht stipendienberechtigt. Nur dank der Unterstützung ihres Umfeldes ist Natalia heute in der Lage, ihr Masterstudium in Transdisciplinary Studies zu finanzieren und sich als Kunstschaffende in der Schweiz zu engagieren. Trotz all dieser Hürden versucht Natalia, sich auf das Positive zu konzentrieren: 

«Meine Hardware mit dem Filmmaterial aus Kolumbien habe ich erst vor einem Monat zurückerhalten – nach vier Jahren Wartezeit. Dennoch durfte ich in diesen Jahren so viel Gutes erleben und mein Glaube gibt mir die Kraft, zu vertrauen, dass es einen Weg für mich gibt. Ich nutze die Zeit, die ich habe.» 

  

 

*Mehr Informationen zum Thema displaced families in Kolumbien: 

 

Mehr Informationen zum Thema Stipendien für Geflüchtete:

Stipendienbericht Perspektiven – Studium

 

Reach out to Natalia Sierra:

natalia.vintage@gmail.com nataliasierrapoveda.wixsite.com/nataliasierra 

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